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Gerichtsentscheidung-Polizeikamerawagen-auf-Demos

10 A 226 / 13 und 11 LC 215 / 14

Worum geht es?


Am 24.9.2015 hat das Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg ein Urteil des Verwaltungsgerichts (VG) Göttingen bekräftigt, das es als rechtswidrig verurteilt hat, dass die Polizei bei einer Demo "vorsorglich" die Überwachungskamera eines Polizei-Kamerawagens ausgefahren hatte.

Im Juristendeutsch heißt das:

Es wird festgestellt, dass das Vorhalten einer ausgefahrenen Mastkamera bei der friedlichen Zwischenkundgebung in Bückeburg durch die Beklagte am 21.01.2012 rechtswidrig war.


Ausschnitte aus dem Urteil des VG Hannover


(...)

Das Vorhalten einer (teil-)ausgefahrenen Mastkamera zur vorbeugenden Gefahrenabwehr bei der Zwischenkundgebung am 21.01.2012 in Bückeburg verletzt den Kläger in seiner Versammlungsfreiheit.

Nach den Vorschriften des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes (NVersG) sind Bild- und Tonübertragungen und -aufzeichnungen nur unter strengen Voraussetzungen zulässig. Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 NVersG kann die Polizei Bild- und Tonaufzeichnungen von einer bestimmten Person auf dem Weg zu oder in einer Versammlung unter freiem Himmel offen anfertigen, um eine von dieser Person verursachte erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuweisen. Darüber hinaus kann die Polizei nach § 12 Abs. 2 Satz 1 NVersG eine unübersichtliche Versammlung und ihr Umfeld mittels Bild- und Tonübertragungen offen beobachten, wenn dies zur Abwehr einer von der Versammlung ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich ist, und nach Satz 2 zur Abwehr erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit offen Bild- und Tonaufzeichnungen von nicht bestimmten teilnehmenden Personen (Übersichtsaufzeichnungen) anfertigen. Unstreitig waren die Voraussetzungen für ein Einschreiten nach § 12 Abs. 1 und Abs. 2 NVersG nicht erfüllt. Weder war ersichtlich, dass von einzelnen Versammlungsteilnehmern eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgegangen ist, noch handelte es sich um eine unübersichtliche Versammlung, von der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgingen.

Dennoch hält es die Kammer zunächst für legitim, dass die Beklagte ein mit einer Mastkamera ausgestattetes Fahrzeug des Beweis- und Dokumentationstrupps vor Ort vorgehalten hat, um ggfs. zur Abwehr einer von der Versammlung ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung offen Bild- und Tonübertragungen vorzunehmen bzw. zur Abwehr erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit offen Bild- und Tonaufzeichnungen anfertigen zu können. Zwar bestand nach der Gefahrenprognose des Einsatzbefehls für den 21.01.2012 eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen friedlichen und geordneten Verlauf der Demonstration. Gleichwohl waren aufgrund eines vermehrten Auftretens von Personengruppen des linken und rechten Spektrums im Stadtgebiet Bückeburg seit Mitte 2010/Anfang 2011 mit wechselseitigen Sachbeschädigungen und Gewaltdelikten am Einsatztag weitere Störungen durch Übergriffe auf in Aufzugsnähe erkannte rechte Szeneangehörige, verbale Attacken, Einsatz von Pyrotechnik, Flaschenwürfe sowie direkte körperliche Angriffe gegen polizeiliche Einsatzkräfte und begleitende Sachbeschädigungen denkbar. In dieser Situation hätte die Beklagte nicht erst im Bedarfsfall einen Kamerawagen bzw. technische Ausrüstung für Bild- und Tonübertragungen herbeiholen können, sondern durfte diese Ausrüstung vor Ort vorhalten.

Allerdings war es aus Sicht der Kammer nicht erforderlich, dass die Beamten der Beklagten die Mastkamera bereits teilausgefahren vorgehalten haben und dadurch bei den Teilnehmern der Versammlung den Eindruck erweckt haben, dass die Versammlung gefilmt oder beobachtet werde.

Artikel 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen und ist - als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe, die auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt - für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.12.2012 - 1 BvR 2794/10 -, juris). Der Schutzbereich von Artikel 8 Abs. 1 GG erfasst als innere Versammlungsfreiheit auch die Entschließungsfreiheit des Einzelnen bezüglich der angstfreien Ausübung seines Grundrechts. Insbesondere die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit setzt in ihrem Freiheitsgehalt voraus, dass die Versammlungsteilnehmer nicht befürchten müssen, wegen oder anlässlich ihrer Grundrechtswahrnehmung staatlicher Überwachung unterworfen und so möglicherweise Adressaten für sie nachteiliger Maßnahmen zu werden (Dietel/Gintzel/ Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage, § 12a, Rn. 3 m.w.N.).

Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur anlasslosen Bildaufzeichnung nach dem Bayrischen Versammlungsgesetz (Beschl. v. 17.02.2009 - 1 BvR 2492/08 - juris) Folgendes ausgeführt:

„Eine (…) weite Befugnis zur Erstellung von Übersichtsaufzeichnungen führt zu gewichtigen Nachteilen. Sie begründet für Teilnehmer an einer Versammlung das Bewusstsein, dass ihre Teilnahme und die Form ihrer Beiträge unabhängig von einem zu verantwortenden Anlass festgehalten werden können und die so gewonnenen Daten über die konkrete Versammlung hinaus verfügbar bleiben. Dabei handelt es sich überdies um sensible Daten. In Frage stehen Aufzeichnungen, die die gesamte - möglicherweise emotionsbehaftete - Interaktion der Teilnehmer optisch fixieren und geeignet sind, Aufschluss über politische Auffassungen sowie weltanschauliche Haltungen zu geben. Das Bewusstsein, dass die Teilnahme an einer Versammlung in dieser Weise festgehalten wird, kann Einschüchterungswirkungen haben, die zugleich auf die Grundlagen der demokratischen Auseinandersetzung zurückwirken. Denn wer damit rechnet, dass die Teilnahme an einer Versammlung behördlich registriert wird und dass ihm dadurch persönliche Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf die Ausübung seines Grundrechts verzichten.“

Auch Echtzeitübertragungen, die nicht gespeichert werden und damit von flüchtiger Natur sind, kommen nach der Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts mögliche Einschüchterungseffekte zu, wenngleich im geringeren Umfang als bei Bildaufzeichnungen. Wenn einzelne Versammlungsteilnehmer damit rechnen müssen, dass ihre Anwesenheit oder ihr Verhalten bei einer Versammlung registriert wird, könnte sie dies von der Teilnahme abschrecken oder sie zu ungewollten Verhaltensweisen zwingen, um den beobachtenden Polizeibeamten möglicherweise gerecht zu werden. Insofern überschreitet eine solche Videobeobachtung die grundrechtlich relevante Eingriffsschwelle, wenn Bürger aus Sorge vor staatlicher Überwachung von der Teilnahme an der Versammlung absehen könnten und - aus Sicht eines verständigen Versammlungsteilnehmers - zu befürchten ist, die Aufnahme könne beabsichtigt oder versehentlich jederzeit ausgelöst werden und somit eine Individualisierung von Versammlungsteilnehmern - z.B. durch „Heranzoomen“ einzelner Personen - ermöglichen. Daher verletzt auch das Richten einer aufnahmebereiten Kamera auf Demonstrationsteilnehmer nebst Übertragung der Bilder auf einen Monitor Versammlungsteilnehmer in ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (so auch OVG Münster, Beschl. v. 23.11.2010 - 5 A 2288/09 - juris; VG Berlin, Urt. v. 26.04.2012 - VG 1 K 818.09 -, juris).

Lagen - wie oben dargelegt - die Voraussetzungen für eine Aufzeichnung oder ein Beobachten der Versammlung nach den Vorschriften des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes nicht vor, stellt unter Berücksichtigung der angeführten verfassungsrechtlichen Vorgaben auch das bloße Vorhalten einer ausgefahrenen Mastkamera einen unzulässigen Eingriff in die Versammlungsfreiheit des Klägers dar.

Ausschlaggebend für diese Bewertung ist die Tatsache, dass für die Versammlungsteilnehmer nicht erkennbar war, dass mit der halb ausgefahrenen Mastkamera keine Bildaufzeichnungen bzw. Bildübertragungen erfolgt sind. Wie sich aus den von der Beklagten zur Akte gereichten Lichtbildaufnahmen des verwendeten Mastkameratyps ergibt, handelt es sich um eine Konstruktion, bei der aufgrund der geringen Größe des Kamerakopfes und der farblich einheitlichen Gestaltung von Kamera und Aufsatz bereits bei einer relativ geringen Entfernung von einigen Metern vom Einsatzfahrzeug nicht mehr deutlich feststellbar ist, in welche Richtung die Kamera gerichtet und in welchem Winkel eine Aufzeichnung oder Übertragung möglich ist. Auch wenn die Kamera nach unten abgewendet wird, ist dies bereits aus geringer Entfernung nicht eindeutig erkennbar und als Kameraausrichtung zum potenziell Betroffenen hin oder von ihm weg nicht deutlich sichtbar. War für die Versammlungsteilnehmer - wie vorliegend für den Kläger - damit nicht ersichtlich, ob die (teil-)ausgefahrene Kamera in Betrieb genommen war oder nicht, konnten sie sich unabhängig vom tatsächlichen Einsatz der Kamera beobachtet und gefilmt fühlen und insofern von der Ausübung ihrer Versammlungsfreiheit abgehalten werden, weil sie nicht übersehen konnten, ob ihnen daraus Risiken entstehen. Eine solche Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit ist aus Sicht der Kammer jedenfalls dann nicht hinzunehmen, wenn nicht mit schnell auszuführenden Rechtsverletzungen (z.B. Tätlichkeiten, Zerstörungen) unmittelbar im Demonstrationszug oder an dessen Rändern konkret gerechnet werden muss und insoweit zumindest die Voraussetzungen für Bild- und Tonübertragungen nach § 12 Abs. 2 NVersG vorliegen. Eine dementsprechende Gefahrenlage hat die Beklagte jedoch selbst nicht behauptet und ist auch aus dem Einsatzablaufprotokoll der Beklagten nicht ersichtlich.

Dass es damit für die Beklagte zu Verzögerungen beim Einsatz von Kameras zur vorbeugenden Gefahrenabwehr kommen kann, wenn Kameras zukünftig nur versenkt vorgehalten werden dürfen, ist im Lichte der Bedeutung der Versammlungsfreiheit hinzunehmen. Nach Angaben der Beklagten kann die Einsatzbereitschaft der Kamera durch vollständiges Ausfahren bis zur Höhe von 4 Metern bereits innerhalb von 39 Sekunden hergestellt werden kann; ein Ausfahren in geringere Höhe wäre noch schneller zu bewerkstelligen. Insofern ist die Einsatzbereitschaft der Kamera innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums hergestellt, so dass die Beamten der Beklagten im Fall erster Erkenntnisse des Entstehens einer Gefahrenlage im Sinne von § 12 Abs. 1 bzw. Abs. 2 NVersG noch ausreichend handlungsfähig wären. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass die Kamera ohnehin allein in ihrer Funktion zur vorbeugenden Gefahrenabwehr (und nicht zu Strafverfolgungszwecken) eingesetzt werden kann, ist nicht ersichtlich, dass die geringe zeitliche Verzögerung eine unangemessene Beeinträchtigung der Polizeiarbeit bedeutet.

(...)


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Kategorie(n): Urteil Versammlungsfreiheit

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Zuletzt geändert am 30.03.2018 00:00 Uhr